Zhuangzi / Rezensionen

Rezensionen zur Erstausgabe (Herder, 2003)

Der Traum des Schmetterlings - ein Zhuangzi-Lesebuch

Wenige Monate nach dem Erscheinen von Günter Wohlfarts Buch über den chinesischen Philosophen Zhuangzi (um 369-286 v. Chr.) lässt Herder unter dem schönen Titel "Mit den passenden Schuhen vergisst man die Füße" ein ergänzendes Lesebuch folgen.

Herausgegeben und ausgezeichnet kommentiert von dem Trierer Sinologen Henrik Jäger, stellt es den europäischen Leser vor das alte Problem der Differenz von Einzelheit und Gesamtschau, von Einheit und Unterschiedenem. In der Welt gebe es viele, die sich auf einen Punkt stürzten, doch sie versäumten den Blick aufs Ganze: "Wenige sind es, die die Schönheit von Himmel und Erde in ihrem Denken umfassen, die das Antlitz geistiger Klarheit beschreiben können", heißt es hier.

Das fernöstliche Denken speist sich auch aus schamanistischen Quellen. Es setzt zwar nicht die Intuition über die logisch-begriffliche Genauigkeit, aber es hat zum Ideal die spielerische, zielfreie Bewegung des Denkens, auf das "freie und müßige Wandern" (you). So wie die Fische und der geübte Schwimmer sich frei im Strom bewegen und doch ihre Bewegungen abstimmen, so geschieht das Denken in der Mehrdeutigkeit der Sprache.

Jäger zitiert zum besseren Verständnis dieser Auffassung den französischen Philosophen Paul Ricoeur, der die Offenheit des Textes vor dem Erfahrungshintergrund des Lesers betont. Das "Erklären" mag die Quellen, den historischen Zusammenhang, die Etymologien erläutern, letztlich bedeutet jede Aneignung der poetischen Gleichnisse und Parabeln eine produktive, die Welt erweiternde Tätigkeit des Lesens und Bearbeitens.

Berühmt ist die Geschichte vom "Schmetterlingstraum" des Philosophen, in dem die Identität von Zhuangzi und dem "nur geträumten" Schmetterling zweifelhaft wird. Wer träumt wen? Wer ist wirklich, wer geträumt? Der Schmetterling, der Philosoph? Sind die Grenzen zwischen Wachheit und Traum nicht fließend? Gibt es nicht Tage, an denen ein Traum die erlebte Wirklichkeit deutet und aufschließt?

Motive der Romantik, der Psychoanalyse und des Surrealismus unserer Kultur sind verwandt, auch Goethes symbolisches "Stirb und werde" des Nachtschmetterlings. Gleichzeitig steckt darin auch eine Kritik an der übermächtigen Zweckorientierung des modernen Lebens, das sich noch im Überfluss weigert, die Besinnung des Denkens, die Freiheit des Spielens zu gestatten.Das Werk Zhuangzis gehört zu den großen klassischen Texten des alten China und seiner reichen poetisch-philosophischen Tradition. Viele Jahrhunderte später, zur Tang-Zeit im Jahre 742, erhielt es durch kaiserlichen Erlass den Ehrentitel "Das wahre Buch vom südlichen Blütenland". Die hier gemeinte Wahrheit ist die der Einheit des Lebewesens mit seiner Umgebung, symbolisiert durch das Fließen des Atems, gefährdet aber durch starre Grundsätze des "Maschinenherzens" und einengende Erziehung.

Der gefangene Seevogel einer Gleichniserzählung wird vom Kaiser mit einem Bankett und einer Festmusik geehrt, doch er nimmt nichts zu sich, sein Blick ist "trübe und verloren", nach drei Tagen ist er tot. Denn nicht alle Wesen leben im selben Medium, doch alles Leben zeigt sich im freien Wandern, im Folgen des eigenen Genius, in der ständigen Aufmerksamkeit und der Bereitschaft zum Wandel.

Peter Winterling

Mit den passenden Schuhen vergisst man die Füße. Ein Zhuangzi-Lesebuch. Hrsg. v. Henrik Jäger. Herder 5037, 156 Seiten, 8,90 Euro.



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"Mit den passenden Schuhen vergisst man die Füße" - der bezaubernde Titel des Buches ist gleichzeitig eine kleine Kostprobe aus seinem Inhalt. Leichthin, lakonisch, prägnant bringt Zhuangzi, einer der ganz großen Philosophen und Dichter Chinas, Weisheit auf den Punkt. Man liest und vergisst, dass es philosophische Texte sind, die doch eigentlich schwierig sein müssten. Die Worte und Gleichnisse passen, sie sind schwerelos wie der Flug eines Schmetterlings und helfen, die Erde frei und müßig zu erwandern - eines der daoistischen Ideale. Aber die Leichtigkeit des Schmetterlings, so macht Jäger in seinem Epilog deutlich und spielt dabei auf den bekannten Schmetterlingstraum an, hat nichts mit Realitätsverleugnung zu tun. Es ist die Leichtigkeit, die sich einstellt, wenn man durch die Wandlung gegangen ist.

Die Aufbereitung des großen chinesischen Klassikers trägt dazu bei, mögliche Hemmschwellen beim Leser abzubauen. Die "exakte Vieldeutigkeit" der chinesischen Schriftzeichen wird anschaulich erklärt, die Geschichte des Zhuangzi umrissen. Den einzelnen Gleichnissen, die Jäger neu übersetzt hat, ist eine kurze Interpretation beigefügt, die den Text aber in seiner Vieldeutigkeit belässt. Sie erklärt ihn knapp; dem Leser bleibt es jedoch überlassen, den Text auf seine Weise ganz persönlich zu verstehen. Dieses Zusammenspiel von Erklären und Verstehen entspricht dem hermeneutischen Ansatz Paul Ricoeurs, dem der Herausgeber verbunden ist: Einen Text zu verstehen heißt für den Leser, sich selbst vor dem Text zu verstehen. Dies ermöglicht Jägers sorgfältige und gründliche Arbeitsweise, die wissenschaftlich Gebildete erfreut und Leser ohne entsprechende Vorkenntnisse nicht behindert.

"Chinesische Weisheit auch für uns?" , fragt er in einer Überschrift. Aber ja! Und am besten noch mehr davon!


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Henrik Jägers Buch ist eine einfühlsame Annäherung an den alten daoistischen Philosophen, der sich jeder dogmatischen „richtigen" Interpretation entzieht. Zhuangzi fordert die unterschiedlichsten Lesarten heraus und der Autor dieses Buches ist sich dessen vollkommen bewußt. Seine Deutungen erheben bei aller wissenschaftlichen Qualitätsarbeit mit dem Original keinen Anspruch auf Objektivität - der alte Meister hätte dazu auch herzlich gelacht. Es gelingt dem Autor aber vorzüglich, den Humor, die Wandelbarkeit und die tiefe Menschlichkeit des lebendigsten Textes der chinesischen Philosophie herüberzubringen. Besonders erfreulich ist an diesem „Lesebuch", dass man es tatsächlich zu lesen beginnen kann, „wo immer man will".